Begriffsklärung Autismus

Autistische Störungen sind gekennzeichnet durch tiefgreifende Beeinträchtigungen der Entwicklung, die bereits im Kindesalter beginnen und in deren Zentrum eine schwere Beziehungs- und Kommunikationsstörung steht. Hinzu kommen zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten, die besonders für die Eltern im alltäglichen Umgang mit ihren Kindern sehr belastend sind. In den internationalen Klassifikationssystemen, ICD-10 und DSM-IV, zählt es zu den psychischen Störungen. Es werden neben dem frühen Beginn folgende drei Kerndiagnosekriterien des Autismus genannt:

Hier sind beispielhaft nur die Kerndiagnosekriterien für den Frühkindlichen Autismus aufgeführt. Zur spezifischen Diagnose der anderen Störungen aus dem Spektrum siehe ICD-10 oder DSM-IV.
Hinzu entwickeln sich oftmals zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten, die im täglichen Miteinander zu Belastungen führen (Ängste, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressio­nen, Selbstverletzungen).
Für die Therapie und Förderung von Menschen mit Autismus ist es von größter Wichtigkeit, über ein aussagekräftiges Modell zur Erklärung und zum Verständnis der autistischen Störung zu verfügen. Mit großer Übereinstimmung betrachtet die Fachwelt Besonderheiten der Wahrnehmungsverarbeitung als Kernproblematik des Autismus:
Der Mensch mit Autismus kann mit häufig intakten Sinnesorganen die zahlreichen Reize aus dem eigenen Körper und dem umgebenden Raum zwar aufnehmen, sie jedoch nicht immer sinnvoll miteinander verbinden, wiedererkennen, einordnen und mit bleibender Bedeutung versehen. Sensorische Reize werden nicht zu verständlichen Bedeutungsträgern, Wahrnehmungsrealität und Erleben entziehen sich der Kontrolle und bleiben chaotisch. Die Ausbildung und Differenzierung von innerer Ordnung bleibt dem autistischen Menschen erschwert, Kontinuität und Zuverlässigkeit im Erleben des eigenen Körpers oder der eigenen Person in Abgrenzung zum umgebenden situativen und sozialen Kontext werden sich nur sehr bedingt einstellen können. Der Mensch mit Autismus bleibt durch äußere Reize irritierbar, wobei die Verarbeitung von Reizen zu verstehbaren Informationen oft zeit- bzw. phasenweise oder nur bestimmte Reize betreffend gestört zu sein scheint.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die auffälligen Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus zunächst als naheliegender Versuch, die Wahrnehmungsverarbeitungsstörung zu kompensieren:
Sie haben besondere Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt, weil sie die darin dargebotenen, ständig wechselnden Reize nicht integrieren können. Sie beziehen ihre Wahrnehmung stattdessen bevorzugt auf den eigenen Körper oder gleichbleibende Dinge und Abläufe, die sie erfassen, verstehen und kontrollieren können. So schützen sie sich vor Überreizungen, Irritation und Chaos und verschaffen sich selbst ein Erlebnis des Geordnetseins. Die Symptome der autistischen Störung werden insofern als sinnvolle Handlungen gesehen, als Versuche der Selbsterhaltung.
Gleichzeitig legt eine in diesem Sinne gestörte Wahrnehmung auch affektive Störungen bzw. Störungen der emotionalen Entwicklung nahe:
Das Nichtverstehen von Sinneswahrnehmungen bringt Kontakt- und Kommunikationsstörungen zwischen dem Kind und seiner Umwelt, sogar seinen Bezugspersonen mit sich. So können zum Beispiel in bester Absicht handelnde Eltern auf ihren autistischen Säugling verunsichernd, irritierend und sicher auch angstauslösend wirken; sie selbst werden sich dann möglicher Weise von ihrem Kind zurückgewiesen, nicht geliebt und enttäuscht fühlen. So kann ein Teufelskreis aus gegenseitiger Verunsicherung, aus Angst, Rückzug und mangelnder Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse entstehen.
Für die primären Bezugspersonen entstehen zahlreiche Probleme im Umgang mit autistisch Behinderten, so dass neben der Therapie für die Betroffenen auch Familien- und Elternberatung notwendig sind.
Die oftmals langfristigen und notwendigen Therapie- und Fördermaßnahmen setzen sich zum Ziel, die Handlungsspielräume und Ausdruckmöglichkeiten des Menschen mit Autismus zu erweitern, zu größtmöglicher Selbständigkeit und Lebenszufriedenheit beizutragen sowie eine bestmögliche soziale Integration zu erreichen.
Die intellektuelle Begabung von Menschen mit Autismus ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von geistiger Behinderung bis hin zu normaler Intelligenz.
Nach internationalen statistischen Untersuchungen liegt die Auf­tretenshäufigkeit von Autismus unter Berücksichtigung des ge­samten Spektrums autistischer Beeinträchtigungen (Frühkindli­cher Autismus; Atypischer Autismus; Asperger-Syndrom) bei 25:10.000 Menschen. Von der Störung sind Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Die autistische Störung findet man in Familien aller Nationalitäten und allen sozialen Schichten.
Es gibt trotz umfangreicher Forschungsergebnisse bislang noch kein Erklärungsmodell, das vollständig und schlüssig die Entstehungsursachen der autistischen Störung belegen kann.
So unterschiedlich sich ursächliche Faktoren für das Syndrom darstellen, so vielfältig und jeweils am einzelnen Menschen mit Autismus ausgerichtet müssen die pädagogischen und therapeutischen Ansätze sein.
Obwohl die Eltern frühestens am Ende des ersten Lebensjahres, meist aber im Verlauf des zweiten Lebensjahres ( wenn die Sprachentwicklung ausbleibt ) das Verhalten des Kindes als ungewöhnlich / auffällig registrieren, beginnen spezielle Fördermaßnahmen für diese Kinder und Hilfen für die Eltern im Allgemeinen selten vor dem 5. Lebensjahr. Bis dahin ist aber eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Phase der Entwicklung der Kinder ohne therapeutische Einwirkung in einer durch die Behinderung vorgegebenen Weise verlaufen.
Die Ursachen dafür, dass die autistische Störung erst so spät erkannt und diagnostiziert wird, könnten durch ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren zu erklären sein:

Das Krankheitsbild ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder sich in Folge der nicht adäquaten Wahrnehmungsverarbeitung von Personen und auch von dinglichen Reizen ( z.B. Spielangeboten ) zurückziehen, sich „abkapseln“, kaum imitieren daher auch wenig neue Informationen aufnehmen, ein bizarres „typisch autistisches“ Verhalten entwickeln und immer mit dem selben Gegenständen oder Körperteilen stereotyp umgehen. Sie werden wenig durch ( neue ) Reize der Umgebung stimuliert, sie erkunden diese wenig und häufig stimulieren sie sich auf eine einfache, stereotype Weise.
Obgleich sie sich bei geeigneter Therapie weiterentwickeln könnten, erhalten sie daher in den für die Entwicklung entscheidenden ersten Lebensjahren eine sekundäre Schädigung, die bei früh einsetzenden Therapiemaßnahmen abzumildern wäre.

Ergotherapeuten und Logopäden arbeiten im rein funktionalen Bereich der Wahrnehmung, Motorik, und Sprache. D. h., dass solche medizinischen Maßnahmen nur Bruchstücke und Teilbe­reiche autistischer Behinderungen berücksichtigen, dabei jedoch nicht die oben beschriebenen erforderlichen komplexen Themenbereiche Autismus spezifischer Maßnahmen erfassen können.
Etablierte Frühfördereinrichtungen betreuen und fördern ins­gesamt eine sehr junge und sehr heterogene Klientel. Sie sind weder auf die Autismus spezifische Früherkennung (Frühdia­gnostik nach spezifisch autismusrelevanten Kriterien,) noch auf die Behandlung und Förderung autistischer Kinder spezialisiert.
Zudem gehört es auch nicht zum Aufgabenfeld der Frühförderung, z.B. störungsspezifische Förderdiagnosen beim Kind zu erstellen, sondern eher mit Hilfe gängiger, sonderpädagogischer Screening-und Testverfahren einen allgemeinen Entwicklungsstand des Kin­des in seinen verschiedenen funktionalen Entwicklungsbereichen zu definieren, um daraus einen Förderplan nach allgemeinen För­derkriterien für das Kind aufzustellen.
Häufig werden durch mehrere Einrichtungen unterschiedliche dia­gnostische Einschätzungen vorgenommen und daraus abgeleitet notwendig erscheinende Maßnahmen angeboten. Diese sind in der Regel nicht aufeinander abgestimmt und führen oft zu massi­ver Verunsicherung von Eltern und Kind. Sofern das Störungsbild nicht umfassend bekannt ist und nicht speziell berücksichtigt wird, besteht die Gefahr, dass unwirksame Maßnahmen über Jahre an­geboten und erfolgreiche Unterstützung und soziale Integration verhindert werden. Symptome und Sekundärstörungen manife­stieren und etablieren sich. In Folge von Fehleinschätzungen und Fehldiagnosen werden nicht selten Schäden dadurch angerichtet, dass Schuldgefühle in den Familien ausgelöst werden.
In den letzten Jahren hat sich die psychosoziale Versorgung bun­desweit zwar verbessert, das Störungsbild ist bekannter geworden. Es fehlt aber weiterhin an gesellschaftlich verankerten Strukturen in sämtlichen Institutionen (Kindergarten, -tagesstätte, Schule, Ar­beit, Freizeit, Wohnen), die Menschen mit autistischen Beeinträch­tigungen spezielle Unterstützung anbieten können. Positive Ansätze im Rahmen der Therapie und Förderung können oft nur dann reali­siert werden, wenn die Kooperation mit den Institutionen gewähr­leistet wird und werden kann.
Zum Zeitvolumen einer verantwortungsvollen und effizienten autismusspezifischen Therapie
Die therapeutische Behandlung eines solch komplexen Störungs­bildes, wie das der tiefgreifenden Entwicklungsstörung Autismus, erfordert nicht nur die klientorientierte Spezialisierung nach inhalt­lich-fachlichen Förderkomponenten.
Sie erfordert, bezogen auf das Zeitvolumen der einzelnen Be­handlungseinheit einen durchschnittlich höheren Zeitakt, als dies im Rahmen der etablierten Frühförderung (oder anderer, ver­gleichbarer Fördereinrichtungen) üblich oder gar von Nöten ist. Diese Notwendigkeit der Bereitstellung eines größeren Zeitrah­mens für die jeweiligen Einzeltherapieeinheiten begründet sich wiederrum aus den für Autismus wesentlichen Kerndiagnosekrite­rien, nämlich der qualitativen Beeinträchtigung der gegenseiti­gen sozialen Interaktion und Kommunikation und den Proble­men bei Veränderungen.
Menschen mit Autismus fehlt weitgehend die Möglichkeit, emotio­nale und soziale Signale zu verstehen, eigene Kontaktimpulse so­zial adäquat auszusenden und im sozialen Miteinander sinnvoll zu gebrauchen. Nicht von ungefähr wird die autistische Behinderung eines Menschen auch mit den Begrifflichkeiten einer schweren Kontakt- und Beziehungsstörung charakterisiert. Gleichbedeutend schwer wiegt das weitere Grundproblem von Menschen mit Autismus im Umgang mit Veränderungen, d. h. von einer (sozialen) Situation in die nächste »flexibel« wechseln zu können.

Zeit ist auch ein wesentlicher Faktor, wenn es um die Frage der Gesamtdauer einer autismusspezifischen Therapie geht.
Grundsätzlich steht fest, dass nur ganz wenige Menschen mit Au­tismus es schaffen, als erwachsene Menschen autonom leben und handeln zu können.
Die autistische Behinderung ist nicht heilbar. Mit einer früh begon­nenen und langfristig angelegten autismusspezifischen, therapeu­tischen Förderung kann der Mensch, je nach Schwere seiner Mehrfachbehinderung, Strategien erlernen, die ihm die Fähigkeit zur (mehr oder weniger autonomen) Eingliederung in die Gesell­schaft (mit ihren vielen »ungeschriebenen« sozialen Regeln) und zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen.
Keine anderen Behinderungsarten zeigen sich in ihren Aus­wirkungen auf die Beziehungen zur Umwelt und somit auf die soziale Eingliederung des Menschen so eklatant gestört wie die autistische Behinderung.
Eine über mehrere Jahre andauernde therapeutische Förderung und Begleitung ist demnach bei Vorliegen einer autistischen Be­hinderung nicht nur als sinnvoll zu erachten, sondern auch vor dem Gedanken einer (schlimmstenfalls lebenslangen) sozialen Ausgrenzung des autistischen Menschen ohne Hilfsangebot, als menschenwürdig und somit unerlässlich anzusehen.
Der frühe Störungsbeginn, die Bandbreite der Problematik sowie die daraus resultierenden Zielsetzungen bedingen ein ganzheitliches therapeutisches Vorgehen. Es reicht nicht aus nur spezifische Fähigkeiten zu trainieren, sondern es müssen die Grundlagen der Störung auf somatischer Ebene und der Ebene der Wahrnehmungsverarbeitung sowie der Ebene der sozialen Beziehungen, der Kommunikation und der emotionalen Ebene berücksichtigt werden. Die einzelne Therapie muss immer an der jeweiligen Problematik des Menschen mit Autismus und seines sozialen Umfeldes, meist die Familie und der beteiligten Institutionen, orientiert sein und klientenspezifische Ziele formulieren. Allgemein lassen sich jedoch folgende am aktuellen Entwicklungsstand orientierten globalen Therapieinhalte differenzieren, ohne dass sich aus der Reihenfolge eine Gewichtung ergibt: